"Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar."

Wer liebt ihn nicht, den Kleinen Prinzen! Rund um den Erdball lesen seit seinem Erscheinungsjahr 1943 Millionen von Menschen in fast achtzig Sprachen das zauberhafte und verzaubernde „Weltraummärchen“. Wir kennen es auch als Hörspiel, Theaterstück, Marionettenaufführung und seit Mai 2002 vielleicht auch als Tanzaufführung der Tanzgruppe l’espace (www.lespace.ch). Der kleine Prinz hat sich als das beliebteste Werk des grossen französischen Poeten und Piloten Antoine de Saint-Exupéry erwiesen. Es ist alles andere als ein süsses literarisches Schaumgebäck. „Ich möchte nicht“, mahnt Exupéry, „dass man mein Buch leicht nimmt. Ich empfinde so viel Kummer beim Erzählen dieser Erinnerungen.“

Exupéry war seelisch schwer verwundet von dem, was er in diesem unerbittlichen Krieg erlebt hatte. In einem Brief an seinen General während des 2. Weltkrieges schrieb er: “Doch falls ich lebendig heimkehre von diesem notwendigen und undankbaren Job, dann wird sich für mich nur ein Problem stellen: Was kann ich, was soll ich den Menschen sagen?“ Der Krieg hatte die von ihm geliebten Werte zerstört. Der Mensch als Individuum fiel der „Entwicklung“ zum Opfer. Oder wie Exupéry es ausdrückte: „Eine Welt würde entstehen, die zwar perfekte Klaviere herstellen, aber keine Pianisten mehr hervorbringen kann.“ Und doch hat er uns in dieser düsteren Kriegszeit die wunderschöne Geschichte des kleinen Prinzen geschenkt...

Man überliest am Anfang des Buches die Widmung für Léon Werth leicht. Exupéry schrieb: „Er braucht sehr notwendig einen Trost.“ Doch wer war Werth? Warum brauchte er Trost? Der Grund war hochpolitisch: Léon Werth war Jude und hielt sich in einem französischen Dorf versteckt. Frankreich war von den Hitler-Truppen besetzt und die Razzien auf Juden rissen nicht ab. Und Exupéry widmete seinen kleinen Prinzen seinem Freund Werth!

Als Pilot eines Aufklärungsflugzeuges kehrte Exupéry am 31. Juli 1944 nicht mehr von einem seiner Einsätze über Südfrankreich zurück. „Es wird aussehen, als wäre ich tot, und das wird nicht wahr sein...“ sagte der kleine Prinz.

Tatsächlich ist der kleine Prinz unsterblich. Seine Botschaft „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ ist aktueller denn je...

Doch nehmen wir uns Zeit für das Wesentliche? Denn erst wenn wir dem Wesentlichen auch wesentliche Zeit einräumen, geschieht es: Beziehungen, Freundschaft und Liebe können entstehen! „Die Zeit, die du für deine Rose verloren hast, sie macht deine Rose so wichtig“, sagte der Fuchs zum kleinen Prinzen. „Du wirst begreifen, dass die deine einzig ist in der Welt.“

Es ist sehr wesentlich für unser ganzes Sein, Befinden und unsere Gesundheit, wie wir mit der Zeit umgehen. Schon Aurelius Augustinus (354 – 430 n. Chr.) bekannte: „Was also ist die Zeit? Solang mich niemand danach fragt, ist mirs, als wüsste ichs; doch fragt man mich und soll ichs erklären, so weiss ichs nicht.“ Ungreifbar und ständig präsent ist sie, die Zeit. Es ist bezeichnend, dass das Philosophische Wörterbuch für die Erklärung des Begriffs „Zeit“ mehr als eine Seite braucht!

Was sagt uns also der kleine Prinz zum Thema Zeit? Auf dem vierten Planeten trifft er den Geschäftsmann, welcher die Sterne am Himmel zählt. Dieser Mann war so beschäftigt, dass er bei der Ankunft des kleinen Prinzen nicht einmal den Kopf hob. „Ich habe keine Zeit, herumzubummeln. Ich habe keine Zeit für Träumereien.“ Diese Lebensphilosophie, so denkt der kleine Prinz, „ist nicht ganz ernst zu nehmen.“ Weil er nämlich den Sinn des Lebens verfehlt und die ganze Zeit nur arbeitet! Für den kleinen Prinzen sind die Sterne noch Sterne und keine spekulativen Kapitalanlagen. Er weiss noch nichts von Risikokapital, Termingeschäften und Börsencrash. Der fliegende Poet Exupéry, der selbst seine teilweise hohen Tantiemen sorglos verlebte und mit seinen vielen Freunden teilte, sagte einmal: „Es gibt nur einen wirklichen Luxus, den der menschlichen Beziehungen.“

Unzählige Menschen, welche das Buch des kleinen Prinzen gelesen haben, sind von seiner Philosophie bezaubert. Es ist eine ungewöhnliche Erzählung über Kindheit und Erwachsensein, über Menschliches und Unmenschliches, über Freundschaft, Liebe, Krise, Tod und Hoffnung. Ich habe den kleinen Prinzen unzählige Male gelesen, wieder für die Vorbereitungen des Tanzstücks, und auch jetzt noch denke ich viel über den kleinen Prinzen nach. Viele Autoren haben über Exupéry und den kleinen Prinzen geschrieben: Biografien, philosophische, psycholo­gische und theologische Interpretationen, „Fort­setzungen“ des kleinen Prinzen, ja sogar über den angeblich letzten Funkspruch. Während dem Lesen habe ich mich oft gefragt, was für ein Mensch Exupéry eigentlich gewesen ist. Ob er wohl wie ich Vegetarier war? Oder vielleicht sogar ein Tänzer? Könnte ja sein, denn „Tanzen ist Träumen mit den Beinen“. Und Exupéry war ja wohl ein Träumer. Wem würde der kleine Prinz heute auf den Planeten begegnen? Einem hungernden Kind? Würde er jemandem begegnen, der sich für dieses Kind einsetzen würde? Oder würde er ein gequältes Tier antreffen? Einen Tierschützer? Müsste er sogar wegen der BSE-Krise sein Schaf verbrennen? Würde er den Planeten Erde von Bomben zerstört vorfinden, wo Männer, Frauen und Kinder unter dem Krieg der Mächtigen zu leiden haben? Oder würde er Menschen begegnen, welche in Frieden miteinander leben, unabhängig von Hautfarbe und Religion? Würde er einen Nichtmuslimen den Koran lesend antreffen, um zu verstehen, was Kern und Wesen des Islam ist? Nie zuvor ist eine Religion weltweit so in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt wie der Islam nach den Terroranschlägen militanter Muslime in jüngster Vergangenheit. Die Diskussionen darüber sind kontrovers. Was würde der kleine Prinz uns Menschen heute dazu sagen? In unserer multikulturellen Gesellschaft prallen die verschiedensten religiösen und philosophischen Weltanschauungen oft wie unvereinbare Gegensätze aufeinander. Sind sie aber nicht einfach verschiedene Verständnistore zu Mensch und Welt? Wie wäre es, wenn der erkennende Mensch bei der Wahrheitssuche die Stelle eines lebendigen Prismas einnähme? Wo bleibt die Toleranz? Wo bleibt der Respekt vor anders Denkenden? Wo ist die Liebe zu den Menschen und Tieren, zur Natur, zur Schöpfung geblieben? Welches ist unsere eigene Meinung zu philosophischen und religiösen Themen?

Exupéry scheint ein Gottsucher, „ein Hungernder nach dem Brot der Engel“ gewesen zu sein. So notierte er: „Allzufrüh in einem Alter, in dem man noch eine Zuflucht sucht, werden wir Gottes entwöhnt, und so müssen wir uns jetzt als einsame kleine Kerlchen durchs Leben schlagen.“ Seine Sehnsucht wurde immer grösser nach einer behüteteren, kleineren Welt, in der es genügen würde, einfach dazusein und akzeptiert zu werden. Seine Frau, Consuelo de Saint-Exupéry, schrieb in ihren Memoiren: „Wenn wir nach dem Göttlichen suchen, wird es uns immer gelingen, es zu finden.“

So können wir uns besonders an Weihnachten wieder fragen: Was ist das Göttliche? Und warum suchen die Menschen überall auf der Welt danach? Nicht nur Exupéry hat danach gesucht. Gibt es etwas, das alle Menschen vereint? Und warum gibt es so viele verschiedene Religionen? Re-ligio heisst Ursprüngliches, Erkennen von Wahrheiten, Rückbindung an Wesentliches... Doch was ist eigentlich wesentlich? Dass wir das Wesentliche mit den Augen nicht sehen können, hat uns Exupéry im kleinen Prinzen mitgeteilt. Nicht alles, was Leben ist, können wir sehen, erklären, nachprüfen...

Bestimmt werde ich den kleinen Prinzen wieder einmal lesen

...bei Kerzenschein..
...mit einer gemütlichen Tasse Tee aus Rosenblüten...

Ich wünsche allen Tänzerinnen und Tänzern und ihren Familien von ganzem Herzen frohe Weihnachten und für das neue Jahr viel Zeit für das Wesentliche.

Karin Bütikofer, im Advent 2002